Um das von Anfang an klarzustellen: ganz egal, was ich nachher noch schreiben werde, es ist schön hier in Feldis.
Es ist ein hübsches kleines Bergdorf an wunderbar sonniger Lage hoch über dem Rhein. So hoch, dass man ihn vom Dorf aus gar nicht sieht. Abgesehen von einigen neuen Häusern, die sich mehr schlecht als recht ins Dorfbild einfügen, ist es ein wirklich malerisches Dörfchen.
Es gibt zwei Hotels hier und das Sternahaus, eine Art Pension. Da ist ein Dorfladen mit vielleicht 35 Quadratmetern Verkaufsfläche (ein Volg mit integriertem Postbüro), der sechs Stunden pro Tag geöffnet ist und am Donnerstagnachmittag geschlossen bleibt.
Es gibt ein kleines Postauto mit etwa zwanzig Sitzplätzen, das ein paarmal pro Tag (meist leer) hinauf fährt. Eine Seilbahn fährt von Rhäzüns aus im Halbstundentakt hoch und von Feldis hinunter, werktags ab 6.15, am Wochenende ab 7.15.
Es gibt Löwenzahn, Enziane, Disteln, Pelzanemonen und noch mehr Enziane, es wachsen auf der Alp oben Ende Mai erst die ersten zaghaften Krokusse, es liegt neben diesen Krokussen noch der letzte zähe Schnee. Gestern habe ich bei der Alp Raguta Osterglocken entdeckt.
Auf den sumpfigen Bergwiesen wachsen Sumpf-Dotterblumen, Trollblumen und Schlüsselblumen, weiter oben auch Alpenglöckchen und allerlei mir unbekannte Kräuter und Sträucher.
Knapp über dem Dorf gibt es noch vereinzelte Laubbäume, Birken vor allem, danach trifft man nur noch auf Nadelbäume, Tannen und Lärchen in erster Linie. Oben, kurz vor der Feldiser Alp, hängen Büsche am Hang, vom Wind in eine Richtung gebürstet, die sehen aus wie aus einer anderen Welt. Wasser kommt aus dem Nirgendwo und verschwindet ins Irgendwo.
Wie gesagt, es ist schön hier.
Und doch fühle ich mich hier nicht zu Hause. Das Haus, in dem ich die Woche verbringe, ist relativ neu, knapp 25 jährig, es verfügt über warmes Wasser und Strom, geheizt wird mit Feuer in einem Ofen auf halbem Weg zwischen Küche und Stube. Gekocht wird auf zwei Elektroherdplatten, es gibt zusätzlich einen winzigen Backofen und einen Holzofen.
Und doch… Ich glaube, das ist mir alles zu modern.
Ich hänge so sehr an Pintrun, dass ich jedes Berghaus damit vergleichen werde, und alle werden sie scheitern.
Pintrun heisst für mich Ferien, Ferien heisst weg vom Alltag. In Pintrun gibt es kein Warmwasser im Haus und keinen Strom und niemand hat das je vermisst, weil der Zauber des Ortes alles überstrahlt.
Es sind Sonnenkollektoren auf dem Dach, die genügend Strom für zwei Stunden Licht pro Tag produzieren, es gibt einen Generator zum antreiben der Kettensäge aber im ganzen Haus keine Steckdose.
Es ist still hier in Feldis am Abend, so still, dass ich das Blut in meinem Kopf dröhnen höre.
In Pintrun hört man das Rauschen des Rheins unten im Tobel. Man hört die Bäume und die Tiere im Wald, man hört den Fuchs bellen und die Grillen zirpen. Wenn es regnet, rauscht es im Laub der Bäume und die Tropfen trommeln laut auf das Metalldach des unteren Stalls.
Es sind zu viele Menschen hier in Feldis. Ja, es ist ein wirklich kleines Dorf und hat bestimmt nicht viele Einwohner. Ausserdem bin ich zur Alp hoch gewandert und dabei nur einem alten Zaun flickenden Bauern begegnet. Aber die Häuser stehen nahe zusammen. Sogar hier, am Dorfrand. Nicht ZU nahe. Aber es engt ein. Ja, in Pintrun wandern in der Hauptsaison 200 Leute pro Tag vorbei. Unten, auf dem Weg. Sitzt man unter dem grossen Nussbaum, merkt man kaum etwas von ihnen. Abends ist man wieder allein.
Klar, man ist in Feldis von fast jedem Haus aus in 5 Minuten im Dorfladen. Von Pintrun aus läuft man eine Stunde bis ins Dorf. Und eineinhalb Stunden zurück in den Wald hinauf.
Trotzdem ist Pintrun für mich der schönste Ort der Welt. Ein Stück Kindheit.
{Brennnesseln, Heuställe, Gummistiefel, Ringelnattern, Frösche, Kaulquappen, Baumhütten, Nägel, Rinaldos wild bündnerdeutsch fluchender Vater, Pfeile im Auge, Schnecken im Feuer, die spanischen Arbeiter, Trockenmauern, die hartnäckigen Ameisen im unteren Haus, Mückenstiche, die Bienen im oberen Stall, Honig, mit gekochtem Wasser in der Küche die Haare waschen, im Crestasee nach dem Monster suchen, Brennnesselsuppe, die Tante Dorli über dem Feuer in einem schwarzen Hexenkessel kochte, die Staumauer im Bach und Rinaldo, der beim bauen ebendieser ins kalte Wasser fiel, unzählige mit dem Gertel gefällte Bäume, im Kerzenlicht lesen, bis man nichts mehr sieht, Nebel, der aus der
Rheinschlucht hinauf kriecht, das Spielibänkli, Plastikdinosaurier, das handgeschnitzte Eile-mit-Weile-Spiel, Frauenschuhe suchen auf der Schmetterlingswiese.}
Eigentlich wollte ich nur in Deiner timeline rückwärts lesen, was denn wohl gleich «soweit» ist und bin dabei auf diesen Link gestoßen.
Jetzt sehe ich beide Orte deutlich vor mir und plötzlich ist mir gar nicht mehr nach Couch und Fernseher sondern nach Wald, Luft und Stille.
Ich bin dann mal noch mal ne Stunde weg, danke fürs Teilen!
Vielen Dank, dass du mir den Link zu deiner Geschichte gegeben hast! Ich finde es faszinierend, wie nach der schlichten und einfach aneinandergereihten Beschreibung des Ortes Feldis, auf einmal diese atmosphärische, emotionale – wie du es selbst nennst ‹Liebeserklärung› an Pintrun folgt Wobei es grad der Reiz ist, dass es nicht ’nachfolgt› sondern unmerklich (anfangs zumindest) ineinander übergeht und sich dabei so stark verändert. Man sieht dich als Kind und es überkommt einen selbst eine unbezwingbare Sehnsucht nach diesem Ort. Toll! Einzig das Ende der Geschichte kommt so plötzlich, dass ich jetzt immer noch weiterscrolle und suche …
LG Michèle
ich weiss nicht was ich dazu schreiben soll. jedes wort und jede zeile habe ich mehrmals gelesen und trotz der des etwas traurigen textes überfällt mich ein gefühl der geborgenheit und des glücks. faszinierend und wünderschön.
Solche Berichte lese ich sonst eigentlich nicht. Ich habe diesen trotzdem gelesen, denn er stammt von einer faszinierenden Person.
Dieser Bericht, so nenne ich das etwas gar sachlich, ist wunderschön geschrieben. Er zeigt die romantische (doch!) Seite und die innerliche Reife der sonst sehr auf Distanz bedachten Autorin.