der dritte Freitag im März

Der Wecker, der ungehört klingelt. Der zweite Wecker, der beinah schon lächerlich leise piepst. Das iPhone, das drei Alarme hintereinander abspielt und ich, die trotz all dem noch mit mindestens drei Vierteln von Körper und Geist in der anderen Welt feststeckt.

Eine Bettfrisur wie ein explodiertes Huhn. Eine Laune wie ein wütendes Krokodil. Das Wasser in der Dusche ist zu heiss, die Luft im Badezimmer zu kalt und der Tag zu jung.

Der Feldweg ist noch ein wenig feucht, Nachbars Hunde wirbeln Wassertropfen durch die Luft, als sie über die Wiese jagen. Der Bus kommt wie immer zwei Minuten zu spät. Es regnet nicht.

An die Bus- und Zugfahrt kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht bin ich gar nicht mit den Öffentlichen gereist, sondern auf einem Zeit/Raum-Strom ins Büro getragen worden?

Ich kaufe zwei Sandwiches als Mittagessen, nicht wissend, dass ich fünfzehn Minuten später eine E-Mail mit dem Inhalt «kommst du heute essen?» mit «Falls du gestern mit heute heute meintest, dann ja» beantworten werde. Die Sandwiches werden zum Abendessen umfunktioniert.

Direkt nach der oben erwähnten E-Mail erreicht mich eine andere, die mich so wütend macht, dass ich einen Taschenrechner auf dem Boden zerschmettere. Es ist keine schlimme Mail, nur eine Anfrage zur Ausführung von ein paar Änderungen an einem Prospekt, durchaus zu schaffen — hätte ich nicht sonst schon tausend zeitaufwändige Dinge zu tun. Nachdem der Taschenrechner auf dem Teppichboden zerschellt ist, ist die Spannung noch nicht weg. Eine lange nicht gekannte Verzweiflung, gemischt mit einer Portion Wut (worauf?) ergreift Besitz von mir und lässt mich wie eine Besessene zittern. Und dann heule ich, lautlos, aber heftig. Eine Frage nach dem Warum könnte ich nicht beantworten und hoffe dementsprechend, dass meine Mitarbeiter dem Büro noch ein wenig fernbleiben. Das klappt ungefähr 10 Minuten lang. Die unvermeidliche Frage, obwohl meine Augen schon wieder verhältnismässig trocken und die wasserfeste  Mascara nicht verschmiert sind, lautet: «geht es dir nicht gut? Kann ich irgendwie helfen?» Sie bleibt unbeantwortet, diese Frage, weil mir die Worte im Hals stecken geblieben sind. Ich denke «spot on, you hero!» und dann: «natürlich geht es mir gut. Dachte halt nur, rote Augen wären mal etwas neues. Und ich musste testen, ob ‹wasserfest› auch ‹tränenfest› bedeutet. Ich bin total glücklich!» Und schweige weiter.

Die iPC7000 hat einen farblichen Dachschaden und druckt alles viel zu rot. Zentriert das Druckbild nicht auf dem Bogen. Der Drucker hat das Papier schräg geschnitten. Ich beseitige ein Problem nach dem anderen und will eigentlich nur nach Hause ins Bett. Nach allerlei Motor Drive Fehler gibt der Roboter in der CTP-Anlage um 10:43 endgültig den Geist auf. Mir ist heiss und ich hab Kopfweh, aber ich rufe trotzdem den Support an, während mir jemand zuschaut — würde mir unter normalen Umständen nie einfallen. Der Techniker kann mir den Ekelroboter per Fernwartung ausschalten und macht sich auf die Fehlersuche. «Du siehst mitgenommen aus», sagt W1. Ich sage nichts.

Zu heisse Spaghetti, zu kalter Eistee. Luft und Gespräche kühlen die Spaghetti, meine heissen Hände wärmen das Getränk. Ich hab eine Serie blöder Ideen, die mein Gegenüber nicht so blöd findet. Mein Kopf ist ganz woanders.

Nach der Arbeit gehe ich kopfschüttelnd durch ein Schuhgeschäft. Diese Dinger will nicht ernsthaft jemand tragen, das kann nicht sein. In der Migros kaufe ich einen Kartonkoffer (hellblau mit weissen Punkten), darin wird morgen das Chaos vom Schreibtisch verschwinden. Ich brauche mehr Platz zum Zeug bemalen.

Auf dem Weg zum Stall esse ich das erste der beiden Sandwiches. Darin sind grüne Spargeln, deren Fäden mir zwischen den Zähnen hängen bleiben. Ich fluche und esse trotzdem das ganze Brot. Das Monsterpferd wartet schon.

Die Stimmung ist komisch. Die Temperatur ist gefallen, es bläst zeitweise ein kühler Wind, der Reitlehrer meint, ich solle nicht zu lange warten, der Regen käme bald.
Rund um den Reitplatz haben sich heute eine Menge Ungeheuer aufgestellt. Ich sehe sie nicht, aber mein Pferd weiss, dass sie da sind. Im Graben, hinter den Büschen, zweihundert Meter entfernt im Wald. Als ich an der einen langen Seite entlang trabe, sehe ich aus dem Augenwinkel den kleinen Kater aus einem Unterbau hervorspringen und nach meiner Gerte angeln.

Gerüche. Geräusche.
Monsterpferdchens Nase, die immer ein wenig nach Apfel riecht, auch wenn er gar keinen gegessen hat. Die neuen Steigbügelriemen, die immer noch quietschen, wenn sie sich am Leder des Sattels reiben. Der schwere Pferdekopf auf meiner Schulter. Der kleine Kater auf meiner anderen Schulter. Die Maus, die auf dem Bretterrand einmal rund um die Pferdebox rennt.

Beim Schliessen der Fenster stelle ich mich noch ungeschickter an als sonst. Ich falle vom höchsten Holzklotz auf die Steine aber schaffe es immerhin, mich weder blutig zu hauen, noch irgendwelche Knochen zu brechen. Ich bin so müde, dass ich nicht einmal mehr fluchen mag. Das Monsterpferd hat mich von seinem Anbindeplatz aus im Blickfeld und staunt mich an. Immerhin lacht er mich nicht aus. Als er meine Schritte auf der Treppe hört, wiehert er laut.

Stephen Fry liest mir auf dem Heimweg aus seiner Autobiografie vor. Er erzählt von Ben Elton und Robbie Coltrane und davon, dass er sich eigentlich immer irgendwie schuldig fühlt.
Daheim erwartet mich der Kater mit der Behauptung, er hätte noch kein Fleisch bekommen. Das schwarze Monster sehe ich nirgends, aber sie wird sich sicher früher oder später auf meinem Kleiderstuhl einquartieren. Meine Hände sind kalt.

Unterdessen ist der Freitag vorbei und ich bin irgendwie noch gar nicht im Samstag angekommen. Soeben wurden die 3-Uhr-Nachrichten auf DRS3 gesendet. Den Wecker stelle ich auf 11:11 Uhr.

 

{während ich das schreibe, höre ich zum ersten Mal seit Monaten wieder Bob Marley. Gerade läuft «Time Will Tell». Denke an die Ferien im Tessin und an Seraina und daran, dass ich mich nicht mehr an die Fluchworte erinnern kann, die wir damals erfunden haben. Und an die ausgefransten und bis zu den Knien nassen Hosen, die wir trugen. An die Schoko-Osterhasen, die wir im riesigen Garten nicht schnell genug fanden und die darum geschmolzene Ohren hatten. An die kleinen Schnecken, die sich im Bach an Steine klebten und aus Kieselsteinchen Häuser bauten. An die Flaschenpost in der Cola-Petflasche, die wir in diesem Bach fanden. Mein Haar, das nach Natur roch, nach Erde und Garten. An den Mann, der mit seinem Vater abgelegen in einem selbstgebauten Pfahlbauhaus wohnte und Pferde hatte. Der fremde Geruch des Tieres, das er mich reiten liess. Spaziergänge in einer Gegend, die nicht wie Schweiz aussah. Den Geruch der Ölheizung im Häuschen. Das Fladenbrot aus Wasser und Mehl, das wir buken, weil wir keine Lust hatten, einkaufen zu fahren. das Doppelstockbett. Und viel, viel Bob Marley. Ist ziemlich genau zehn Jahre her.}

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