igel {unsinn 12.05.31}

Ein toter Igel liegt auf dem Feldweg, der von mir zu Hause zur Bushaltestelle führt. Kurz vor dem dünnen Grasstreifen, der die Mitte des Weges markiert, liegt er da, die Augen offen und blutunterlaufen, das rechte Hinterbein nach hinten ausgestreckt, wie auf der Flucht erstarrt. Er sieht unversehrt aus, vielleicht hat ihn ein Hund zu Tode gejagt. Ich werde sofort traurig und denke an all die Igel, die ich nachts über die dunkle Strasse begleitet habe. Noch keine Viertelstunde aus dem Haus und schon könnte ich das erste Mal heulen.

Ein Junge überholt mich mit dem Fahrrad und schaut mich schräg an. Zuerst schiebe ich es auf meine blauen Haare, aber als ich am Busstop etwas aus der Tasche hole, merke ich, dass aussen eine Wollsocke am Klettverschluss hängt.
Ich stelle mir vor, wie einzelne Wollsocken zum modischen Accessoire werden, wie man sie an Taschen hängt, an Schnüren um den Hals trägt, wie die blaugrün gestreifte Wollsocke als Trendmotiv auf Tausende von T-Shirts gedruckt wird. Wie kleine, mit Zahnstochern gestrickte Söckchen von Ohrringen baumeln.
Und dann frage ich mich, wo wohl die zweite Socke ist. Vermutlich ist sie da, wo auch die Ausflugssocke sein sollte: daheim auf meinem Stuhl. Aber wenn man nach Mitternacht im Dunkeln die Socken auszieht, kann ja schon mal etwas schief laufen.

Am Bahnhof sehe ich lauter schöne Menschen. Nicht Super-, Top- oder andere Models sondern ganz normale Leute, die selben wie jeden Tag, mit den selben Gesichtern wie jeden Tag und den selben Kleidern.
Aber heute sind sie wunderschön. Vielleicht ist es das Licht, vielleicht ist es meine mehr als seltsame Stimmung, die die Leute irgendwie strahlen lässt, die die Frisur der älteren Frau, die immer mit mir im Bus ist, heute so perfekt erscheinen lässt, obwohl sie ist wie immer. Vielleicht ist es, weil sie heute keine Socken trägt, dass mir ihre hübschen schlanken Fussgelenke auffallen. Vielleicht hat sie heute Wimperntusche aufgetragen, vielleicht sind es die kurzen grauen Haare, die heute so fröhlich ein wenig vom Kopf abstehen, vielleicht spielt es auch überhaupt keine Rolle, WARUM ich sie heute so schön finde.

Um alle Menschen scheint etwas zu glühen, eine Art Wärme oder Licht, plötzlich nehme ich sie einzeln wahr und nicht wie sonst als graue Materie, als Teil der Umgebung.
Es müssen die gleichen Leute wie jeden Tag sein, denn es ist zehn Minuten nach sieben, wie jeden Tag, wenn ich am Bahnhof stehe und ich meine, einige Silhouetten wiederzuerkennen, die dünne junge Frau, die im Herbst immer eine Daunenweste trug und den Mittvierziger mit den ausgelatschten Schuhen. Ich glaube das Mädchen zu sehen, das sich oft im Zug mir gegenüber geschminkt hat und das ich für seine ruhige Hand bewundere. Und da ist auch sie, die irgendwie alterslose rundliche Frau mit der Diddl-Maus am Rucksack.

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Es gibt solche Augenblicke. Irgendeine Verschiebung in der Luft, im Licht, vielleicht sind meine Sinne in jenen Minuten irgendwie verdreht, vielleicht schaltet sich ein Teil meines Gehirns aus, ich weiss es nicht. Aber es gibt sie, diese Momente, in denen alles plötzlich ganz anders ist. Heute waren es Menschen, was es das nächste Mal sein wird, weiss ich nicht.

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