«Ich werde angestarrt»

Thema der Nachtwach vom 5. Juni 2012

Meine Haare sind blau. Natürlich werde ich angestarrt.

Meine Haare waren allerdings nicht immer blau. Und ich wurde trotzdem angestarrt. Warum? Ich weiss es nicht.
Ich bin keine besondere Person. Nicht besonders hässlich, nicht besonders hübsch, nicht besonders dünn, nicht über die Massen dick.

Es gibt, so fand ich damals und so finde ich noch heute, keinen Grund, dass man mich länger als eine halbe Sekunde anschauen müsste.
Aber vielleicht sah man mir an, dass ich, wie soll ich sagen… mich nie daheim fühlte unter Menschen. Dass ich darauf achtete, dass mich keiner berührte, nicht einmal mit dem Ärmel des Wintermantels. Ich stand immer ein wenig abseits. Vielleicht sah man mir an, dass ich mich fühlte wie ein Besucher im Zoo, und vielleicht hielten sie mich für ein Tier im Zoo, wer weiss. Vielleicht schaute ich immer ein wenig zu ernst, ein wenig zu traurig, vielleicht versuchte ich zu sehr, nicht aufzufallen.
Zwischen meinem 16. und 25. Lebensjahr trug ich meistens schwarze Kleidung. Eigentlich sollte man damit nicht auffallen unter all den Anzugträgern an den Bahnhöfen und in den Zügen, in der grauen Masse des Alltags.
Schwarz trug ich aus verschiedenen Gründen; erstens hatte ich damals zugenommen, war weder mit meinem Körper noch mit irgendeinem anderen Teil von mir zufrieden oder sogar glücklich und fand schwarz optimal, um mich zu verstecken. Und zweitens waren andere Dinge passiert, die mich nicht unbedingt zum fröhlichsten Menschen der Welt machten. Meine offizielle Ausrede war die, dass schwarze Kleider einfacher zu waschen sind – man muss nichts sortieren, sondern kann alles zusammen in Waschmaschine schmeissen. Irgendwann wurde diese Ausrede auch zu einem Grund.
Schwarze Kleider und hennarote lange Haare. Nichts, das man anstarren müsste. Ein paar wirklich hässliche und tiefe Schnitte und später Narben an den Armen – auch das im Prinzip nichts, das irgendjemanden etwas angehen würde.

Vielleicht wurde ich nicht mehr angestarrt als jeder andere auch. Aber wenn man sich so falsch und fehl am Platz fühlt, wie ich mich damals fühlte, ist jeder noch so schnelle Blick, jede noch so minimal hochgezogene Augenbraue zuviel.

Einmal, ich glaube es war im Herbst 2010, unternahm ich wie immer meine alljährliche Wanderung. Allein, wie immer. Allein, weil es sich für mich auf dieser speziellen Wanderung so gehört.
Es war ein sonniger Tag, es waren viele andere Leute unterwegs und alle, jeder einzelne Mensch, schaute mich an, als wäre ich…was weiss ich, eine direkt aus einer Baumhütte gestiegene Hexe (lange rote Haare und so…). Das ist wahrscheinlich massiv übertrieben, aber die Tatsache, dass ich das heute immer noch weiss, zeigt, dass mich das ganze mehr beschäftigt hat als ich mir eingestehen wollte.

Im vergangenen Jahr kaufte ich zum ersten mal seit fast zehn Jahren ein paar bunte T-Shirts. Und helle Jeans. Und schnitt meine Haare ab. Das Gefühl des Angestarrtwerdens nahm nicht bemerkenswert ab. Aber da ich irgendwie insgesamt zufriedener und selbstsicherer geworden bin, stört es mich nicht mehr besonders.

Und in diesem Frühling, vor etwa vier Monaten, um genau zu sein, schnitt ich meine Haare noch ein Stück ab. Die linke Kopfseite ist kurz, die rechte etwas länger. Die längeren Haare habe ich erst pink gefärbt, später dann blaugrün. Und natürlich werde ich angestarrt. Aber ich weiss wenigstens warum. Und so lässt es sich leben, weil ich mich nicht dauernd fragen muss «schauen die mich an, weil ich zu dick bin? Weil seltsam angezogen bin? Weil ich Legosteine an der Halskette trage?»
Es ist ganz klar, warum sie schauen. Und manchmal den Kopf schütteln. Und manchmal lächeln. Und manchmal sogar zu mir kommen und sagen «hey, huere geili Haarfarb!»

Die Flucht nach vorne – manchmal ist sie eine Befreiung.
Niemand erwartet von einer Person mit blaugrünen Haaren, dass sie sich auf irgendeine Art und Weise normal verhält. Umso besser, dass ich trotzdem eigentlich ein ganz gewöhnlicher langweiliger Mensch bin.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.