(Thema der Sendung «Nachtwach» vom 26./27 Juni 2012, nachzuhören/-sehen hier: videoportal.sf.tv)
Kommt da noch was?
Und wenn ja, will ich wissen, was?
Habt ihr geregelt, was passieren soll, wenn ihr gestorben seid?
Letztes Jahr am ersten August ist mein Grossvater gestorben. Sehr plötzlich, sehr unerwartet. Fast genau ein Jahr zuvor hatte er seinen vier Kindern einen Brief geschickt, beigelegt hatte er seine Todesanzeige, beziehungsweise ein Gedicht von Moris Pozchischwili, einem georgischen Dichter. Der Brief begann mit «erschreckt nicht, wenn ihr meine Todesanzeige erhaltet…»
Er hatte genau festgelegt, wie er die Dinge geregelt haben wollte. Er wollte keine kirchliche Bestattung, so haben seine Kinder einen freischaffenden Theologen engagiert, der sehr einfühlsam durch die Beerdigung geführt hat. Er wollte kremiert und in einem Gemeinschaftsgrab bestattet werden, so liegt nun seine Urne unter einer Steinplatte, zusammen mit anderen, uns unbekannten Menschen. Er wollte im engsten Kreis beerdigt werden und so kamen an seine Beerdigung nur seine vier Kinder, seine nach einem Hirnschlag körperlich angeschlagene Frau, zwei seiner vier Enkel und ein paar Freunde.
Es war eine schöne Beerdigung. Ich legte ein kleines Tintenfass und und eine Schreibfeder zum Grab. Im Wissen, dass sie am nächsten Tag im Abfall landen würden.
Warum habe ich das getan? Denke ich, er konnte zwei Wochen nach seinem Tod noch die Feder und die halbvertrocknete Tinte verwenden? Nein. Aschehäufchen können keine Federn halten.
{Erschreckend, wie wenig von einem übrig bleibt. Ob die wohl alle Asche in die Urne füllen? oder nur so viel, wie halt Platz hat?}
Es war mehr eine Erinnerung für mich. Eine Erinnerung an meinen Grossvater, den Dichter. Eine Erinnerung daran, dass sein Leben vorbei ist, meines aber noch nicht, und dass vielleicht ein kleines bisschen von seinem Talent und von seiner Liebe zur Sprache, zu Sprachen, in mir weiterlebt.
Und jetzt sitze ich hier, mit Tränen in den Augen und dem Wissen im Kopf, dass ich nie so gut sein werde wie er. Dass ich siebenhundert Jahre alt werden könnte und niemals so schreiben können würde wie er. Dass ich vielleicht gar nicht zu solchen Gefühlen fähig bin, wie er es war. Dass ich nicht das Auge für die kleinen Dinge habe. Für die Amsel im Baum, für die Blume, die aus dem Asphalt wächst. Nicht in dem Masse, wie er es hatte. Und dass ich, im Gegensatz zu ihm, vielleicht nie wissen werde, wie sich Liebe anfühlt.
{Ich will nicht sein wie er. Nicht genau so. Das wäre blöd, das geht ja auch gar nicht. Und in vielen Aspekten wärs auch gar nicht erstrebenswert. Aber diese Fähigkeit, mit wenigen und einfachen Worten ganz Grosses zu sagen, davon hätte ich gern ein Stück.}
Lieber Grossvater, gerade jetzt vermisse ich dich sehr, sehr fest. Mein Hals ist ganz nass von all den Tränen, die ich letztes Jahr nicht weinen konnte und die jetzt wie ein Wasserfall über mein Gesicht rinnen.
Weil ich irgendwie nicht so ganz begreifen konnte, dass du keine deiner selbstgemachten Karten mit Gedichten drin mehr verschicken würdest. Dass du mich am Jahresende nicht mit einer spanischen Weihnachtsgeschichte fast einschläfern würdest. Dass wir nie mehr zusammen nach Einsiedeln ins Kloster wandern würden. Dass du nie mehr in besagtem Kloster im Grossen Saal singen würdest. (Wie Grossmutter und ich uns geschämt haben, als der Abt Martin samt ausländischem Besuch den Saal betrat während du sangst! Und wie besagter Abt dich nicht mehr gehen lassen wollte, wegen deiner schönen Stimme.)
Du bist noch da. In all deinen Gedichten, in den vielen Haikus, in den Briefen, in deinen Zeichnungen und Gemälden. In den Tonbandaufnahmen, in denen du Mitte der 1990er-Jahre im Radio gegen die Rechtschreibreform gewettert hast.
{Und es tut mir Leid, dass ich die Kurzgeschichte über den Geist der Lyrik damals nicht geschrieben habe. Ich konnte nicht. Ich kann noch immer nicht.}
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Was nach dem Tod bleibt, sind nicht die Toten, sondern die Lebenden. Und was von den Toten bleibt, bestimmten die Lebenden. Und die Toten, solange sie noch Lebende sind.
Bewusst oder unbewusst, freiwillig oder weniger freiwillig hinterlassen wir unsere Spuren, nicht nur in unserem Leben sondern auch in den Leben anderer Leute, von solchen, die wir mögen, von solchen, die wir weniger mögen, von solchen, die wir uns ausgesucht haben und von solchen, die sich uns ausgesucht haben und vielleicht auch von solchen, die wir eigentlich gar nicht so wirklich kennen.
Was würde von mir bleiben, wenn ich jetzt gerade stürbe? Eine Adressliste zum sortieren im Büro. Zwei, drei unfertige Armbänder. Ganz viel leeres Papier. Ein bisschen weniger viel beschriebenes Papier. Ein erschreckend leeres Konto. Eine grosse CD-Sammlung. Viele DVDs. Ziemlich viele ungelesene Bücher. Diverse Blogs mit vergessenen Passwörtern. Ein paar Dosen knallbunter Haarfarbe. Ein ungegessener Schoko-Osterhase. Viele Gedanken, die sich in einem anderen Kopf ein neues Zuhause suchen müssten.
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Es ist fast drei Uhr nachts. Der Kater schnarcht. Mein linkes Bein ist eingeschlafen. Wenn ich jetzt die Augen schliesse, kann ich nicht sicher sein, dass ich sie in ein paar Stunden wieder öffnen werde. Ich lasse es drauf ankommen. Gute Nacht.