Viermal kämpfe ich heute gegen die Tränen, dreimal gewinne ich knapp, einmal verliere ich, aber sowas von.
Als ich um acht bereits auf dem Rundpferd sitze, spüre ich plötzlich eine riesige Dankbarkeit. Ich realisiere auf einmal, wie toll es eigentlich ist, auf einem Pferd sitzen zu dürfen. Und dabei reite ich in dem Moment nur auf dem Reitplatz mehr oder weniger im Kreis herum. Eine halbe Stunde später, als ich gerade an der langen Seite den Galopp verstärke und jeden Knochen in meinem Körper spüre, denke ich an all die Leute, die das nie erleben, dieses Gefühl von Eins-sein-mit-dem-Pferd, diese zwei Lebewesen, die so harmonieren, dass sie aussehen wie eins. Und sich auch so anfühlen. Ich spüre ja jede Bewegung des Pferdes, seine Beine werden zu meinen, irgendwie.
Später drehe ich mit dem Monsterpferd eine Runde durch den Wald, er läuft gut vorwärts und trabt mir zwei oder dreimal davon. Und er trabt besser als noch am Mittwoch. Zweimal treffen wir die Ponydame an, zweimal beschnuppern sie sich. Als ich ihm später den Kopf bürste, legt er mir seinen schweren Schädel auf die Schulter.
Beim Coiffeur verwandeln sich meine Haare in ein gelbviolettweissblaugrünes Etwas. Das Bleichmittel macht den Ansatz gelblich, worauf die Coiffeuse ein Mittel appliziert, das den Gelbstich neutralisieren soll, worauf Teile der restlichen Haare violett werden, während ein anderer Teil noch immer so pastelltürkis ist. Mit noch nassen und unfrisierten Haaren muss ich im Dorfladen noch kurz ein paar Früchte kaufen – ich werde angestarrt, als käme ich aus einer anderen Galaxie. Auf der Velofahrt zurück nach Hause spüre ich den Wind am Hinterkopf – viele Haare können da nicht mehr sein.
Daheim färbe ich erst einen Teil der Haare und meine linke Hand schwarz, dann starte ich einen neuen Versuch mit Alpine Green – es ist immer noch zu türkis.
Im Zug nach Zürich schlafe ich kurz ein und träume von einem Bahnhof direkt neben einem Bergsee. Als ich aufschrecke, sind wir in Schwerzenbach. Die S14 wackelt von der Hardbrücke her in den Hauptbahnhof, ich erkenne die Gegend nicht wieder. Da stehen Betonpfeiler und eine Rampe, die mitten in der Luft aufhört. Und Häuser, neue Hochhäuser mit Glasfassaden.
Da sind neue Unterführungen und Rolltreppen, wo früher gar nichts war. Es erinnert mich an den Bahnhof in Chur.
An der Kinokasse fragt die Kartenverkäuferin zweimal nach dem Filmtitel. «Es ist alles frei, wo möchten Sie sitzen?» fragt sie mich schliesslich, als sie den Film gefunden hat. Zuhinterst in der Mitte möchte ich sitzen, und da sitze ich dann auch, im achtundsechzigplätzigen Saal Nummer 9 des Kinos Abaton, allein. Als es dunkel wird, kitzeln ein erstes Mal die Augen. Wie ich es fertig bringe, in einer Stadt wie Zürich irgendwo allein zu sein, ist eigentlich wirklich erstaunlich. Zum zweiten Mal kitzeln die Augen am Ende des Films, als der eine Hauptdarsteller dem anderen etwas darüber erzählt, wie wichtig und wertvoll ihre Freundschaft ist – dumm nur, dass der Eine gerade an einer Blutvergiftung stirbt und der Andere in einer Wolfsfalle festhängt.
Als ich aus dem Kino komme, staune ich, weil der Escher-Wyss-Platz auf einmal so ordentlich aussieht. Keine Baustelle, keine Absperrungen. Allerdings auch keine Tramhaltestelle. Die entdecke ich dann aber bald, wahrscheinlich ist die schon seit Jahren da und ich hab’s einfach nicht gemerkt. Mit dem Plan, um 21 Uhr direkt ins nächste Kino zu gehen, steige ich ins Vierertram. Am Central steige ich dann doch bereits wieder aus, weil ich befürchte, während eines zweiten Films dann wahrscheinlich doch einzuschlafen. Der Limmat entlang spaziere ich Richtung Stadelhofen. Einige Male halte ich kurz inne, schaue ins Wasser und staune. So sauber sieht es aus, man sieht das Seegras und Fische.
Einmal bleibe ich eine Weile stehen, die Arme auf dem noch sonnenwarmen Geländer, und schaue ins Wasser. Vom Restaurant ein bisschen weiter vorne erklingt Musik. Ich stehe da und schaue ins Wasser, wie es sich kräuselt und plötzlich verschiebt sich etwas in meiner Wahrnehmung, auf einmal fange ich an, über Wasser nachzudenken und wie seltsam das Zeug eigentlich ist. Irgendwie ist die Limmat nicht mehr ein blaugrünes Etwas zwischen zwei Ufern sondern sie wird transparent, sie fügt sich ein zwischen hier und drüben und ich habe das Gefühl, bis auf den Grund sehen zu können, auch in der Mitte des Flusses, so wie es bei Grafikfehlern in Computerspielen manchmal passiert.
Das Wasser leuchtet in der eigentlich längst untergegangenen Sonne, ein Schwarm winzigkleiner Mücken tanzt über der Wasseroberfläche. Die Musik wird intensiver und bekommt eine Farbe. Ein helles, fast transparentes warmes Gelb. Plötzlich kribbeln meine Augen wieder. Ich kämpfe die Tränen zurück. Hinter mir laufen Leute vorbei, in Gruppen, in Paaren, laut und bunt. Es ist, als wäre ich Zuschauer in der Welt der Menschen. Als die Musiker aufhören zu spielen, wird mir plötzlich kalt.
Ein Mann mit langem Bart und Inlineskates fährt Slalom zwischen den Tramschienen. Er singt dazu. Ich lächle. Andere schütteln den Kopf.
Vor einem Restaurant im Niederdorf steht eine Gruppe Leute. Einer trägt ein gelbes gemustertes Hippiehemd und darüber eine Art blauen Anzug. An den Oberschenkeln enge Schlaghosen und eine Weste, die vorne einen bis unter den Bauchnabel gehenden V-Ausschnitt hat. Sein behaarter Bauch hat ein beachtliches Ausmass.
Mit einer Art Kaffee setze ich mich an einen Tisch hinter dem Theater am Hechtplatz. Es muss gerade Pause sein, Leute in schreiend bunter Kleidung kommen zum Rauchen aus der Notausgangstür. Mir fällt ein, dass ich noch Karten besorgen sollte für «Camping, Camping». Ich schreibe Zeug in mein Notizbuch, am Nebentisch wird laut geküsst. Ich ignoriere es.
Beim Sternengrill kaufe ich einen Cervelat, weil es so gut riecht. Leider kann ich davon nicht einmal die Hälfte essen, die Haut scheint aus einer Art Karton zu bestehen.
Als ich vom Dorf nach Hause laufe, sehe ich auf dem Feldweg vor mir einen dunklen Schatten. Direkt daneben bleibe ich stehen. Der Schatten bleibt auch stehen. Ein Igel. Ich denke an den toten Igel von vorgestern und prompt schnürt sich mir die Kehle wieder zu. Ich verharre bewegungslos, das Tier auch. Nach einer Weile geht er weiter, mit einem lauten Rascheln taucht er ins hohe Gras ein, verschwindet, und taucht mit einem lauten Rascheln auf der anderen Seite des Grasstreifens im Feld wieder auf. Ich lächle und gehe weiter.
Der Mond ist fast voll. Der Himmel dunkelviolettgrau. Mit Wolken. Ich bleibe wieder stehen und schaue den Mond an und er muss Schuld dran sein, dass mir nun doch ein paar Tränen über’s Gesicht laufen. Und dann immer mehr. Ich weiss nicht, was das soll und gehe weiter, bis ich nichts mehr sehe und meine Wangenknochen schmerzen. Das weisse Pferd, das vor dem Stall steht, kommt auf mich zu.
Ich wünsche mir den Monsterpferdekopf auf meine Schulter.
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irgendwo zwischen Bus und Bett schreibe ich noch diesen Satz:
Ich starre den Mond an — sogar er scheint mich auszulachen.
Vielleicht lächelt er auch bloss.
}