Es riecht nach früher

Irgendwann zwischen acht und neun Uhr abends, ich reite am Waldrand entlang, ein paar hundert Meter weiter, am anderen Ende der Wiese stehen Häuser, der Vollmond hängt weiss und rund am Himmel und es riecht nach frisch geschnittenem Rasen. Der Geruch muss von den Häusern her kommen, denn die Wiese ist noch nicht geschnitten, noch ist der Boden zu weich, die Traktoren würden tiefe Spuren hinterlassen. Noch am Montag war hier in der Senke eine Pfütze in der sich, wäre sie noch ein wenig länger geblieben, sicher Enten angesiedelt hätten.

Als ich um die nächste Kurve reite und freie Sicht auf den Dämmerungshimmel habe, staune ich. Violettrotorangegelbhellblaugrau leuchtet es am Horizont.

Das Pferd zieht zum Brunnen, taucht die Nase ins Wasser und atmet aus, grosse Blasen steigen an die Wasseroberfläche. Es riecht nach früher, nach Vita-Parcours mit dem Herrn Papa vor mehr als zwanzig Jahren. Ich denke an meine Kindheit, und frage mich, ob ich heute anders wäre, wenn ich meinen Vater häufiger als alle paar Wochen und später alle paar Monate, dann Jahre, gesehen hätte. Ob ich glücklicher gewesen wäre in einer sogenannt heilen Familie, mit Mutter und Vater im selben Haus. Ob ich gelernt hätte, mit Leuten zu reden, wenn es mir nicht gut geht oder ob ich genau so verschwiegen gewesen wäre.

Unnötige Gedanken sind das, reine Gedankenverschwendung. Niemand weiss, wie es hätte sein können oder wie es gewesen wäre. Das ist das gute an der Tatsache, dass niemand weiss, wie Dinge, die nicht passiert sind, hätten passieren können: wir wissen nicht, was wir verpasst haben, was uns vorenthalten wurde. Und es lohnt sich nicht, einer Sache hinterherzutrauern, die man niemals hätte haben können.

Als ich den Wald hinunter reite, verschmilzt der Monsterpferdehals in der Dämmerung mit dem Waldboden, das Tier unter mir verschwindet, ich sitze in der Luft und bewege mich wie durch Zauberhand durch den Wald. Ein paar Sekunden dauert die Illusion, das seltsame Gefühl, in einer anderen Welt gelandet zu sein, dann bin ich zurück, das Pferd ist zurück, der Waldboden hat es wieder freigegeben, und ich bin froh, dass ich immer nur einen Augenblick lang verrückt bin.

 

 

2 thoughts on “Es riecht nach früher

  1. Nach ein paar Jahren schaue ich nun mal wieder in deinem Blog vorbei und der erste Post lässt mich wieder in deiner wunderbaren Welt versinken. Du schreibst so traumhaft.
    LG,
    Amnesia

  2. Da kam mir jetzt ein Buchtitel in den Sinn: «Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war» ;)
    – Interessanterweise hab ich dieses geflügelte Wort in der letzten Zeit häufiger gehört, und ich frage mich, ob das daran liegt, weil man irgendwo diesen Buchtitel aufgeschnappt hat und einem die Formulierung deshalb gerade mehr präsent ist; ob es auch mir deswegen mehr auffällt; oder ob «man» sich generell gerade vermehrt diese Frage stellt, wie (un)sinnvoll es ist, sich an «illusionären Zuständen aus der Vergangenheit» bzw. an im Nachhinein als angebliches Ideal erkorenen Scheinbildern zu orientieren (in Bezug auf Politik, Weltgeschehen, dem Überdenken von “Traditionen“ und allem, was angeblich «schon immer so war», aber im Grunde hauptsächlich in den Köpfen der Leute besteht und dort solch eine Gewichtung bekommen hat, weil konsequent reichlich Tatsachen ignoriert und ausgeblendet werden, die man vielleicht persönlich ablehnt, die aber zu einem “ausgewogeneren“ Bild der Realität beisteuern würden).
    Äh, bla! Faden verloren!
    Das ist jetzt mehr ins Allgemeine abgedriftet, aber der Denkanstoß kam von dir, deshalb bin ich mal so frei und spamme hier ein bisschen rum, damit keine Beschwerden kommen, nä! :)

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