Das Torkeltier und das Rapsfeld

Man weiss ja nie so ganz genau, was in einem Pferdeschädel so vor sich geht. Manche behaupten, da gehe überhaupt nicht viel, Pferde seien dumm und könnten gar nicht denken. Nun ja. Es gibt bei den Equiden wie auch bei den Menschen gescheitere und weniger gescheite Exemplare. Und wie auch bei den Menschen sind die gescheiten eine grössere Herausforderung für ihre Umgebung.

Das Torkeltier, das ich nun schon bald zwei Jahre reite, gehört anscheinend zu der anstrengenden Sorte. Als er vor ungefähr fünf Jahren zu uns in den Stall kam, lief er keinen Schritt vorwärts. Nur seitwärts oder rückwärts oder auf den Hinterbeinen (ebenfalls rückwärts). Man hat dann herausgefunden, dass die Kastrationsnarbe ihn störte und behinderte. Nachdem man die Narbe entstört hatte, wurde es besser.
Nun ist er halt aber ein an seiner Umwelt sehr interessiertes Tier. Er will wissen, was läuft. Er will besonders gern wissen, was zum Beispiel oben auf dem Hügel läuft, wenn ich eigentlich gern hätte, dass er unter mir auf dem Reitplatz schöne runde Volten dreht. In den ersten paar Monaten bin ich fast verzweifelt, wenn er wieder aus einem schönen gelösten Trab plötzlich anhielt, sich umdrehte und den Hügel hinauf starrte, weil sich dort oben – man stelle sich das vor – ein Fahrrad (Spaziergänger/Jogger/anderes Pferd/ein Floh) auf dem Strässchen bewegte.

Das lief dann so ab:
Torkeltier (Vollstop aus dem Trab, Laura hängt ihm am Hals): «aaaaah! Ein Marsmensch! Ein Dinosaurier! Ein Horde blutsaugender Riesenfledermäuse! Das Grauen, der Horror!»
Laura: «nein. Ein Spaziergänger. Reg dich ab. Der darf sich da oben bewegen.»
Torkeltier (mit Giraffenhals): «Aber! Ich muss den beobachten! Hilfe!» (schraubt sich am Boden fest und lässt sich keinen Millimeter bewegen)
Laura: «Himmelarsch! Du bist ein Pferd, du hast deine Augen seitlich am Kopf, damit sich nicht das ganze Tier drehen muss, wenn es etwas anschauen will! Praktisch, oder?»
Torkeltier: «aber…»
Laura: «nein!»
Oder wenn wir drüber diskutierten, auf wievielen Spuren man gehen soll.
Torkeltier: «Da ist genug Platz, dass ich auf 6 Spuren gehen kann. Eine für jedes Bein und dann je eine für Kopf und Schweif.»
Laura: «Torkeltier, komm von der Schwelle herunter. Torkeltier, da kommt uns einer entgegen. Torkeltier, da steht ein Sprung, ich brauch doch mein Knie noch! Aua!»
Was dieses Vieh eins studiert!

Jedenfalls, um langsam zum Titel dieses Textes zu kommen… es ist ja alles viel besser unterdessen. Er flippt im Gelände nicht mehr aus, wenn etwas (andere Pferde, Fahrräder, Jogger, eine Mücke) von hinten kommt. Er hat selten diese Aussetzer, während derer er drauf beharrt, dass er auf KEINEN FALL an irgendeinem gefährlichen Ding (Haus, grosser Stein, kleine weisse Blume, quer liegende Grashalme) vorbei gehen wird. Einmal, letzten Herbst, ist er komplett durchgedreht, nachdem er eine Nase voll Saugülle eingeatmet hat. Da wollte er nur noch umdrehen und in eine andere Richtung laufen (in Richtung des Feldes, von dem der Güllegestank kam, logischerweise), was unsere Begleitung zum Kopfschütteln brachte.
Aber wie gesagt, solche Episoden sind selten geworden.

Letzten Dienstag allerdings, als wir neben einem fast erntereifen Rapsfeld her trabten, kam sein Hals mir immer mehr entgegen. Es nahm beinahe giraffenmässige Ausmasse an. Er starrte ins Feld, schnaufte Luft ein, blies die Luft schnorchend wieder aus, starrte noch mehr ins Feld, dass ich beinahe glaubte, diesmal habe er wirklich einen Marsmenschen gesehen. Ich hingegen sah nichts, was diese Reaktion gerechtfertigt hätte. Ich sah einfach nur Raps. Und Pferdehals. Am Ende des Feldes war sein Kopf so weit aufgerichtet, ich hätte mich nur leicht vorbeugen und ihn in den Mähnenkamm beissen können. Ein paar Meter nach Feldende war alles wieder beim alten. Ich habe keine Ahnung, was der Grund gewesen sein könnte. Vielleicht hat ihm der Geruch des Rapses nicht behagt? Ich musste mich jedenfalls ziemlich beherrschen, dass ich ihn nicht lauthals ausgelacht habe. Pferde sind zwar nicht so schnell eigeschnappt und beleidigt wie Katzen, aber bei dem Tier weiss man nie. Vor allem muss man ständig den Kopf bei der Sache haben. Das soll man natürlich immer, aber das Torkeltier bringt mich schon dazu, immerzu Ausschau nach irgendwelchen gefährlichen Dingen (Velos, Fussgänger, Jogger, Reiter, Ufos, Dinosaurier, Vögel, Katzen, bunte Blumen) zu halten. Denn so träge er sich auch sonst manchmal anstellt, so blitzschnell kann er sich unter mir 180° drehen.
Bild: Torkeltier im Normalzustand.

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Bild: Torkeltier im Giraffenmodus.

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