Es ist Montag, einer wie viele, einer nämlich, an denen ich morgens im Bett liege wie erschlagen, nach einer Nacht voller seltsamer Träume. Diesmal hatte ich den Auftrag, eine Leiche von Zürich via Lausanne nach Luzern zu transportieren. Mit Bus und Zug. Gut sichtbar auf einer grossen Liege lag die Leiche, zugedeckt mit schwarzem Plastik, der mit Klebstreifen an der Liege befestigt war. Meine Gehilfin: ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen, das ganz offensichtlich Erfahrung in solchen Dingen hatte. Ganz im Gegenteil zu mir. Ob ich den Auftrag zur Zufriedenheit der Auftraggeber ausführte, weiss ich leider nicht mehr, denn ich wachte auf, bevor wir überhaupt in den Bus steigen konnten.
So ein Montag ist es. Ein Alptraumnachtmontag.
Im Laufe des Nachmittags beschliesse ich, abends ins Kino zu gehen. Das ist der Grund, warum meine Montage pferdefrei sind: damit ich mich spontan entschliessen kann, ins Kino zu gehen. Oder sonst irgendwo hin. Kinomontag, wo der Eintritt in allen Kinos der Stadt Zürich nur 13 Franken kostet – eine tolle Erfindung.
Ich schaue mir «Weekend» an, im kleinsten Kinosaal des Arthouse Piccadilly, der 46 Personen Platz bietet. Der Saal ist voll. Ausverkauft. Ein bisschen wehmütig denke ich an den Samstag vor ein paar Wochen, als ich «Trapped» geschaut habe, ganz allein in einem Saal mit 69 Plätzen. Gleichzeitig geniesse ich es, von Leuten umgeben zu sein, die sich für die selbe Sache interessieren. Jedenfalls nehme ich an, dass sie sich für den Film interessieren. Neben mir sitzen zwei sehr junge Frauen, ich schätze sie auf höchstens zwanzig. Vor mir sitzt ein schwules Paar. Überhaupt machen, so schätze ich, schwule Paare sicher einen Drittel des Publikums aus. Den Altersdurchschnitt des Publikums schätze ich auf zwischen 30 und 50.
Mir gefällt es in diesem kleinen Kino. Hier sind ganz andere Leute als in den anderen Kinos, in denen die Blockbuster laufen. Hier sind Künstlertypen und Studenten, hier und auch im Kino RiffRaff und in den anderen Arthouse-Kinos sind die interessanten Menschen. Die, die keine Superheldenfilme sehen wollen, keine Animationsstreifen oder Hollywoodliebesschnulzen. Und sie wollen kein Popcorn essen während der Vorstellung. Ich mag das.
Während der Vorschauen streift mein Blick über die Menschen in den Reihen vor mir. Sie sehen glücklich aus, sie halten Händchen, sie nehmen abwechslungsweise einen Schluck aus der Colaflasche. Sie neigen die Köpfe zueinander und flüstern sich Dinge zu, die ich nicht verstehe und auch nicht verstehen soll.
Eine Filmvorschau berührt mich irgendwie, ich glaube, ich werde mir «Death of a Superhero» anschauen, wenn er dann im Kino läuft.
Der Film. Ich hab mich im Vorfeld ein wenig darüber aufgeregt, dass er in der Zeitung als «schwules Liebesdrama» angepriesen wurde. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich eigentlich froh darüber bin, denn hätte da einfach «Liebesdrama» gestanden, hätte ich ihn nicht geschaut. Da ich nach Möglichkeit keine Liebesfilme schaue. Weil ich sie nämlich nicht verstehe. Weil mir die Worte «ich liebe dich» nichts bedeuten. Oder nur im Kopf, aber nicht im Herzen.
Darum bin ich so froh, dass ich diesen Film gesehen habe. Nicht ein einziges Mal haben die beiden diese Worte geäussert. Sie kannten sich schliesslich auch nur 48 Stunden lang. Aber in einem typischen Hollywoodliebesfilm hätten sie in dieser Zeit kaum etwas anderes gesagt.
Da sind diese beiden Männer, die sich in einem Club begegnen, flüchtig, daraus wird eine Nacht, ebenso flüchtig, so scheint es zunächst, dann ein Samstag, ein Sonntag, ein Weekend eben und dann… gehen die Wege wieder auseinander. Wie es halt so ist, in einer Welt, in der kein Hollywooddrehbuchautor das Drehbuch geschrieben hat.
Ich glaube, das macht diesen Film so stark. Dass nicht das erhoffte und von manchen vielleicht erwartete Happy End eintritt. Dass die Zuschauer, wie auch die Hauptpersonen selber, nicht allzu viel über die beiden erfahren. Diese Dinge und die Bildaufnahmen, von Russell vor allem, dem man ansieht, dass er nicht glücklich ist, dass er allein ist und seinen Platz in der Welt irgendwie noch nicht gefunden hat.
So ein Film macht einem die vorherrschende Heteronormativität sehr bewusst, nicht nur wegen Glens Vortrag, den er Russell hält, als die beiden eine Nacht durchkoksen, sondern wegen der Reaktionen der Leute im Film auf das schwule Paar. Kein Wunder hat Russell nicht den Mut, Glen im Club zu küssen.
Der Song, der in der letzten Szene des Films beginnt und durch den ganzen Abspann hindurch spielt heisst Marz, ist von John Grant und hat mir Gänsehaut beschert.
Als ich aus dem Kino stolpere (stolpere, weil mir auf dem Kinostuhl das rechte Bein von der Hüfte an eingeschlafen ist und nun schmerzt), gehen vor mir zwei Männer Hand in Hand. Ich lächle. Ich hätte sie gern angelächelt, habe aber Angst, dass sie es falsch verstehen würden. Während ich die Treppe zum unterirdischen Bereich des Bahnhofs Stadelhofen hinunter steige, beschliesse ich, nicht hier den Zug zu nehmen, sondern noch der Limmat entlang zum Hauptbahnhof zu spazieren. Es ist ja schliesslich noch relativ hell. Bis zur Rudolf-Brun-Brücke komme ich, dann entscheide ich mich noch einmal anders und fahre mit dem Tram zurück zum Stadelhofen, wo ich in den Zug in Richtung Oberland steige.
Vom Dorf aus laufe ich nach Hause. Es regnet nicht. Die Luft ist erfüllt von allerlei Geräuschen. Glöckchen, die an Schafhälsen leise klingeln, Grillenzirpen und das ekelhafte hohe Geräusch, das Mücken machen, wenn sie ganz nah bei einem sind. Das leise Rascheln des zügig gewachsenen Maises, der mir schon bis zur Hüfte reicht. Meine Schritte auf dem Kies. Nur meine.
Der Mond scheint hell, bald ist wieder Vollmond. Der Kater empfängt mich vor der Haustür.