Thema der «Nachtwach»vom 11. Januar 2012, nachzuhören/sehen hier: videoportal.sf.tv.
Mir gehen sehr viele wunderschöne Bilder sehr schnell wieder aus dem Kopf. Das ist schade, aber nicht weiter schlimm. Denn die dazugehörenden Gefühle bleiben und solange auch nur ein Fünkchen Erinnerung an ein Ereignis in meinem Kopf übrig bleibt, kann ich die meisten Bilder zurückholen.
Es gibt aber auch einige Bilder, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die stärksten sind hier chronologisch geordnet.
Eine meine allerfrühesten Erinnerungen an meinen Vater ist die an den Tag, an dem er auszog. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich sechs Jahre alt war. Ihre Differenzen haben sie nie vor mir ausgetragen, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Und meine erste richtige Erinnerung an meinen Vater ist die an den Tag, an dem er uns quasi verlässt. Natürlich hat er mich nicht verlassen, ich habe ihn alle zwei Wochen gesehen (bis ich älter wurde und eine Aversion gegen seine neue Frau entwickelte und eh anderes im Sinn hatte, als mich sonntags in der Stadt zu langweilen), wir sind zusammen in die Berge gefahren oder zu Slotcar-Autorennen, wo er mich manchmal fahren liess. Er hat mich sehr gern und ich habe ihn sehr gern, wir verstehen uns jedes Mal auf Anhieb, wenn wir uns sehen, auch wenn dazwischen erschreckenderweise auch einmal Jahre vergehen können. Er war immer für mich da, wenn ich ihn gebraucht habe und eigentlich finde ich es äusserst unpassend, dass mir dieses Bild, wie er auf der Treppe vor dem Haus steht, eine Tasche in der Hand, nach Worten ringend, nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Es gäbe so viele schönere Bilder!
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Dann ist da das Bild meiner Zimmertüre, die aus den Angeln gehoben wird, obwohl ich sie (mangels Schlüssel) am Türschloss festgebunden habe.
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Und dann ist da das Bild eines dunkelbraunen Pferdes, das im Frühling beim ersten Weidegang auf der Wiese herum rennt, eine Kurve zu eng nimmt, den Halt verliert und stürzt.
Dieses fürchterliche Geräusch, als sein Schädel an die als Pfosten dienende senkrecht stehende Eisenbahnschwelle kracht, seine Beine, die sich wie im Galopp weiterbewegen, aber nie mehr Boden berühren werden. Die erschreckten Augen der Schnupperlehrtochter, die ich den Reitlehrer holen schicke, und das «Scheisse!», das diesem bei seinem Eintreffen entfährt. Dann diese grässlichen Minuten allein mit dem sterbenden Pferd. Die Bewegungen, die langsamer werden und schliesslich aufhören, der Atem, der stossweise geht, die Zunge, die aus dem geöffneten Maul auf den staubigen Boden hängt und die Fliegen, die sich auf die geöffneten glasigen Augen setzen. Diese Augen, die ich mit der Hand zudecke, damit die Insekten sich nicht hinein setzen können, obwohl es zu diesem Zeitpunkt eh egal ist. Mein tränenersticktes «schnauf! schnauf doch!», das niemand hört und mein Kopfschütteln als Antwort auf die Frage, ob er noch atme, die der Reitlehrer dann stellt, als er vom Telefonat mit dem Tierarzt zurückkommt. Oblada, das andere Pferd, das ängstlich auf der Nachbarweide hin und her trabt, weil es spürt, das etwas nicht stimmt und das nachher nicht am toten Kollegen vorbeilaufen will.
Und schlussendlich das Bild eines beschlagenen Hufs, der unter einer grauen Plastikplane hervorschaut.
{Der Satz «Am Nachmittag kommen die Kinder!» den der Reitlehrer leicht verzweifelt am Telefon zu jemandem sagt, vermutlich zu jemandem, von dem er hofft, dass er den Kadaver bald abholen kommt.}