in Einsiedeln

{Ausflug nach Einsiedeln am 6. August 2015}

(am 6.8.)

Nach einigen Runden auf dem Reitlatz mit der Hexe und einer wider Erwarten recht angenehmen Geländerunde mit dem Torkeltier bin ich um zwölf Uhr wieder daheim und um 13:03 Uhr im kleinen Bus zum Bahnhof. Kurz darauf befinde ich mich im Zug nach Rapperswil, wo ich in die S40 steige, die mich zuerst dem See entlang und dann durch die Hügel nach Einsiedeln bringt.

Samstagern, geistert es in meinem Kopf herum. Samstagern, Samstagern, von da aus sind wir doch früher immer nach Einsiedeln gewandert, meine Grosseltern, meine Cousine und ich, Samstagern, Samstagern.

Als der Zug in Samstagern einfährt, erkenne ich nichts wieder. Ich wusste noch so ungefähr, dass es ein kleiner Bahnhof sein musste, eine Station eher, und dass man vom Bahnhof aus über eine stark befahrene Strasse musste und dann den Hügel hoch, über eine Kuhweide, steil hinauf, durch einen Wald und dann ging es «ebenaus», wie die Grossmutter immer sagte. Den Bahnhof sehe ich zum ersten Mal. Er ist zu gross, das Gelände zu hell und zu offen. Alles ist falsch. Ich bleibe sitzen. Der Zug fährt weiter. Ich bin verwirrt.

In Schindellegi fällt mir ein, dass ich mal jemanden kannte, der da wohnte. «Schön hier», denke ich, «aber ein bisschen ab vom Schuss».
Der Zug hält in Biberbrugg. Biberbrugg! Klar, Biberbrugg, ich Huhn, Biberbrugg, nicht Samstagern. Es war schon immer Biberbrugg und ich habe, wie mir nun einfällt, schon als Kind jeweils gesagt, wir seien von Samstagern aus gelaufen, einfach, weil mir das Wort Samstagern (auf Schweizerdeutsch «Samschtagere») so gut gefiel, dass ich Biberbrugg immer vergass.
Für einen kurzen Augenblick überlege ich, ob ich aussteigen und wie früher nach Einsiedeln laufen kann, aber als die Türe sich öffnet und 32°C warme Luft ins Fahrzeug strömt, setze ich mich blitzartig wieder hin und verschiebe die Wanderung auf den Herbst. Im Herbst ist wandern sowieso viel schöner, sage ich mir, da kann man auch mal den Kopf heben und in die Weite schauen, ohne dass man geblendet wird.

In Einsiedeln muss ich mich erst einmal orientieren. Da steht ein Einkaufszentrum direkt neben dem Bahnhof, von dem ich nicht mehr sagen kann, ob es bei meinem letzten Besuch vor geschätzten sieben Jahren bereits da stand oder nicht. Ich betrete es und kaufe, meiner Sommerferientradition folgend, ein Lustiges Taschenbuch und ein Donald Duck Sonderheft. Dann spaziere ich durchs Dorf. Auch hier hat sich einiges geändert, ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, dass hier letztes Mal bereits Billigkleiderläden ihre Fetzen auf dem Trottoir ausgestellt hatten.
Vor dem Klosterplatz komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus, die Arkaden auf der linken Seite sind vollständig eingerüstet und eine Infotafel klärt über den prekären Zustand des Platzes auf. In den nächsten Jahren kann man da wohl keine Postkartenfotos schiessen, ausser man plant einen Fotoband mit dem Titel «Klöster im Gerüst» oder «Arkadenrenovation im 21. Jahrhundert».

Ich schreite langsam über den Platz, beobachte Leute, überlege, weshalb sie hier sind, ob sie gewöhnliche Touristen sind und das Kloster als Touristenattraktion betrachten, oder ob sie vielleicht auf dem Jakobsweg wandern und hier Zwischenhalt machen. Eine junge Frau mit einer H&M-Plastiktasche in der Hand betritt die Kirche durch eine der halbautomatischen Seitentüren. Ich staune und gehe langsam auf das alte Gebäude zu. Mir fällt ein, dass ich wohl besser ein, zwei Taschentücher in der Hosentasche haben sollte und beginne den Rucksack zu durchwühlen – ohne Erfolg.
In der Kirche ist leises Gemurmel zu hören, einige Leute sitzen oder knien auf den Bänken vor dem Altar der Schwarzen Madonna. Ich stelle mich neben eine Säule ganz hinten und schaue die Madonna an. Leute kommen, verneigen sich vor der Bankreihe, bevor sie diese betreten. Ich kann mich nicht erinnern, das jemals beobachtet zu haben, aber meistens waren auch nicht so viele Leute in der Kirche, wenn ich mit meinen Grosseltern hier war. Eine Weile schaue ich mich in der Kirche um, schaue die Leute an, bestaune die Decke, bis mein Genick ganz steif wird und gehe dann zum Kerzenaltar an der hinteren Wand. Die Kerzen sind kleiner und teurer, als ich sie in Erinnerung habe, dafür sind die Becher mit den Umrissen des Klosters bedruckt. Ich bezahle trotzdem zweimal zwei Franken und zünde erst eine Kerze an und entfache dann die zweite an der ersten – irgendwie fühlt sich das richtig an. Die beiden Kerzen zünde ich an für meine Grosseltern, die vor ein paar Jahren gestorben sind und um die ich noch nicht richtig getrauert habe, weil ich immer vorhatte, mal nach Einsiedeln zu fahren und mich dort richtig auszuheulen. Ein Arbeiter kommt und sammelt die ausgebrannten Kerzenbecher ein, «viele Kerzen heute», sagt er und lächelt mich an und ich lächle mit tränennassem Gesicht zurück. «Ja», sage ich und schaue eine Weile den Kerzen beim Brennen zu.

Später positioniere ich mich noch einmal neben der Säule, schaue ins Leere, sehe Menschen an mir vorbeigehen, fühle, wie mir die Tränen wie Sturzbäche übers Gesicht bis ins T-Shirt fliessen und wie ich ein paar Mal tief atmen muss, um vor lauter heulen überhaupt noch Luft zu bekommen. Ich schäme mich nicht. Ich bin nicht die einzige, die weint.

Das grelle Sonnenlicht draussen trocknet mein nasses Gesicht fast sofort.

Der Weg neben der Klosteranlage erscheint mir länger als sonst. Erst überlege ich noch, ob ich eine Runde im Wald gehen soll, aber dann ist es mir doch zu heiss und ich setze mich unter einen Baum, wo ich eine Weile bleibe und den Schatten geniesse.

Später esse ich in einem Café einen trockenen Toast und trinke ein Schokoladenfrappé dazu, eine zugegebenermassen seltsame Mischung.
Auf der Fahrt zurück nach Rapperswil schaue ich aus dem Fenster und komme wie schon auf der Hinfahrt zum Schluss, dass die Schweiz schon einiges an schönen Landschaften zu bieten hat. Sanft geschwungene Hügel, kitschgrün wie im Trickfilm, kantige Schluchten, gewaltig hohe Berge und überall die Eisenbahn, die einen an fast jeden gewünschten Ort bringt.

Wieder einmal nehme ich mir vor, in Zukunft öfter mal Ausflüge zu machen. Ein Vorhaben, das, wie ich mich kenne, an meiner grandiosen Faulheit scheitern wird.

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