«Endlich glücklich!»

Ich habe aus Gründen einige Nachtwach-Sendungen nachgehört.

Normalerweise höre ich beim Nachhause-laufen eher Hörbücher. Am liebsten englische, am liebsten von Stephen Fry gelesene. Aber in letzter Zeit… finde ich auch Mundart ganz interessant.

Bei der Sendung mit dem Thema «Endlich glücklich» (vom 13. März 2012, nachzuhören/sehen hier: videoportal.sf.tv) musste ich unterbrechen, stehen bleiben, ein paar Mal tief einatmen und mich erinnern.

Ja, es gab Momente in meinem Leben, in denen ich richtig glücklich war.

Da war zum Beispiel eine Achterbahnfahrt im Europapark Rust vor ungefähr zehn Jahren, eine Fahrt auf der Silverstar. Gesehen habe ich während der Fahrt nicht so wahnsinnig viel, da ich meine Brille abnehmen musste, aber das kurze Gefühl der Schwerelosigkeit und das anhaltende Gefühl des Magens, der mir offensichtlich in der Kehle zu sitzen schien, waren dermassen unvergesslich, dass ich mich noch heute oft dahin zurückwünsche. Wenn man in dieser Achterbahn sitzt und mit bis zu 130 km/h durch die Luft rast, spielt alles andere keine Rolle mehr. Und wenn mich die Welt mal wieder zu erdrücken droht, denke ich an dieses Gefühl und für einen Moment ist alles in Ordnung.

Ein anderes Ereignis ist noch nicht ganz so lange her, in diesem Monat genau zwei Jahre. Ich wurde von der Tante unserer damaligen Nachbarin gefragt, ob ich eine Woche auf ihre Katze aufpassen würde.
Die Nachbarinnentante und ihr Mann besitzen in Feldis ein Ferienhaus. Gewohnt haben sie damals glaube ich in Mönchaltorf, jenes Haus haben sie aber verkauft, um definitiv nach Feldis zu ziehen. Der ursprüngliche Plan war gewesen, dort zu wohnen, aber viel in der Welt herumzureisen. Irgendwann vor Weihnachten 2009 lief ihnen auf einem Spaziergang eine Katze zu. Ein grau-rötlich getigerter Kater. Irgendwo im Wald stiess er zu ihnen, begleitete sie und ging mit ihnen nach Hause. Die Suche nach den Besitzern verlief erfolglos und das Tier wollte nicht mehr gehen, also haben sie ihn bei sich aufgenommen und ihm einen Namen gegeben: Bosco, das italienische Wort für Wald.

Nun sollte Bosco während einer Woche mit mir allein in Feldis sein, während seine Besitzer… nein, Besitzer ist nicht das richtige Wort. Wenn, dann war Bosco der Besitzer der beiden Menschen, schliesslich hat er sie sich ausgesucht. Jedenfalls wollten die beiden älteren Leute ihm den ganzen Umzugsstress ersparen und ich passte eine Woche lang auf ihn auf.

Nachdem ich am Samstag- statt wie üblich am Sonntagmorgen im Stall die zehn Boxen ausgemistet und mein Pferd noch bewegt hatte, wurde ich gegen Mittag von dem älteren Ehepaar abgeholt. Er ein pensionierter Lehrer, wenn ich mich richtig erinnere und was sie vor der Pensionierung gemacht hat, weiss ich leider nicht mehr.
Ein Auto voller Hausrat, einer Katze, die offensichtlich nicht gerne Auto fuhr und drei Leuten, die sich nicht kannten. Davor hatte ich mich schon die ganze Woche gefürchtet. Die Fahrt verlief aber ganz gut, die Katze beruhigte sich bald und mir wurde erst auf den letzten Kilometern schlecht.

In Feldis war der Frühling noch nicht so ganz angekommen. Mit seinen rund 1500 Metern über Meer ist das auch verständlich. Das Haus liegt etwas ausserhalb des Dorfkerns, hat im Erdgeschoss, das eigentlich der Keller ist, zwei Räume mit Feuerholz drin. Im ersten Stock, der eigentlich das Erdgeschoss ist (das Haus steht halb im Hang), sind zwei Zimmer, eine winzige Stube, eine offene Küche, die auch als Esszimmer dient und ein kleines Bad. Im ausgebauten Dachstock befindet sich die Wohnung der Hausbesitzer, vom unteren Teil durch eine Falltür getrennt.
Mitte Mai muss man in Feldis noch heizen. Mit Holz. Ich hab ja immer furchtbare Angst, dass ich es einmal fertig bringe, ein Haus abzufackeln, daher war ich von dieser ganzen Feuersache nicht so wahnsinnig begeistert. Aber es half nichts, wenn ich nicht in voller Wollmontur da hocken und frieren wollte, musste ich den Ofen füttern. Und ich kann noch heute nur staunen: ich habe weder das Haus abgefackelt, noch mich selber ausgeräuchert, noch irgendwie den Ofen zerstört.

Die Nacht auf Sonntag verbrachte das Ehepaar in Feldis. Bosco schlief im oberen Stock bei ihnen auf dem Sofa. Am Samstagabend gingen wir zu dritt noch spazieren und Bosco begleitete uns – die Nachbarinnentante erzählte mir, sie hätten ihn im Februar schon mit in die Ferien nach Feldis gebracht, weil sie niemanden fanden, der auf ihn aufpassen konnte. Und er habe sie bei ihren abendlichen Spaziergängen begleitet.
Vor ihrer Abfahrt wurden mir noch Instruktionen erteilt: ich sollte für Bosco Reis kochen (ohne Salz), den er zusammen mit so einer Bio-Katzenwurst fressen sollte. Für eine Katze kochen. Ich. Habe innerlich gegrinst. Und, kaum waren sie weg, eine grosse Pfanne Reis gekocht. Bosco war dann zum Glück nicht so kompliziert, wie seine Menschen mir weismachen wollten.

Nachts sollte der Kater im Haus bleiben – wegen der Füchse. Zweimal hat mich das Mistvieh verarscht und ist erst weit nach Mitternacht zurückgekommen. Einmal sass er auf einem Baum fest, weil er vor einer anderen Katze da hoch geflüchtet war, und ich dann drunter stand und er nicht herunter kommen wollte, weil er wusste, dass ich ihn einsperren würde, wenn ich ihn erst einmal gefangen hätte. Ich liess ihn im Baum hocken, ging ins Haus und eine halbe Stunde später kam er hungrig maunzend daherspaziert.

Am Sonntagabend ging ich ins Bett, las ein paar Seiten und genoss dann die Stille – trotz gekipptem Fenster hörte ich den Rhein in der Schlucht unten nur sehr leise. Bosco vermutete ich im oberen Stock auf seinem Sofa, als plötzlich etwas auf mein Bett sprang und mich fast zu Tode erschreckte. Dieser Kater, der mich knapp vierundzwanzig Stunden kannte, legte sich zu mir, versuchte, unter die Decke zu kriechen und rollte sich schlussendlich auf meinem Bauch zusammen. Ich habe ein bisschen geweint vor Rührung.
Die anderen Abende verliefen ähnlich. Ich sass in der kleinen Stube auf dem Sofa neben der offenen Gartentüre und las. Im Bücherregal hatte ich sämtliche Bücher von Katharina Hess entdeckt und während der Woche in Feldis fast alle davon gelesen. Erinnern, so richtig erinnern kann ich mich an keines, aber ich weiss noch, dass ich damals hin und weg war von dieser Frau. Von ihrer Art, wie sie Geschichten erzählt, Geschichten, die allesamt im Kanton Graubünden spielen, in abgelegenen Gegenden, auf Alpen oder in Zwischenwelten. Wie sie Spannung aufbauen kann, wie sie ihre starken Frauenfiguren beschreibt (die mir ehrlich gesagt dann und wann auf den Wecker gingen), wie sie…. einfach toll schreibt. Ende Woche war ich so weit, dass ich ihr am liebsten einen Brief geschrieben hätte. Tun sollen hätt› ich’s, ich faule Kuh!
Irgendwann kam der Kater nach Hause und legte sich zu mir auf’s Sofa. Dann gingen wir ins Bett, ich zuerst, dann er. Er verbrachte jede Nacht in meinem Zimmer, mal auf mir, mal neben mir, mal am Fussende, mal fast auf meinem Kopf.

Die Tage verbrachte ich fast alle draussen. Kaufte ab und zu im Dorfladen ein (Öffnungszeiten jeweils 4 Stunden am Vormittag und 2 Stunden am Nachmittag, ausser Donnerstags, da bleibt der Laden am Nachmittag geschlossen); Brot und Käse und Butter, Nudeln und einmal eine Dose Ravioli. Es ist noch immer so: wenn ich in den Bergen bin, habe ich keinen Hunger. Es ist keine Leere da, die ich füllen muss.

Jeden Tag war ich unterwegs, streifte durch den Wald und die Gegend im allgemeinen, kein einziges Mal stieg ich in die Seilbahn ins Tal. Ich fand es ganz wunderbar, keiner Menschenseele zu begegnen (bis auf durchschnittlich zwei Wanderern pro Tag) und mit niemandem reden zu müssen. Als meine Mutter mich am Dienstag anrief, war ich ganz heiser vor lauter Nicht-sprechen.
Mit im Gepäck hatte ich meine neu erstandene Kamera, die Nikon D3000 und eine Zeitschrift mit Anleitungen zur gelungenen DLSR-Fotografie.

Braun war noch die Natur, der Frühling war sich noch nicht so sicher, ob er sich wirklich bis nach Feldis vorwagen sollte, ich fand auf meinen Wanderungen noch Osterglocken auf braungrünen Wiesen. Ich lief über Wiesen, die aussahen, als sei noch nie ein Mensch darüber gelaufen, ich stieg hoch bis ganz zuoberst auf die Feldiser Alp, wo noch Schnee lag und ich ganz allein vor der Alphütte sass und mein trockenes Sandwich ass. Noch nie hatte ein Sandwich so gut geschmeckt wie an diesem Donnerstag auf einer einsamen Alp im Regen.

Ich glaube, ich habe geweint auf dieser Alp, weil alles so schön war, weil es so gut roch und weil der Regen so schön auf’s Dach trommelte; aber auch, weil alles so hässlich und braun und nass war und weil da Wegweiser standen, die nach Chur zeigten oder nach sonstwohin und weil ich einfach hätte gehen können, nach diesem sonstwohin.

Von der Feldiser Alp habe ich nach Trin hinüber geschaut, nach Flims und nach Zwischenflimsundtrin, nach Pintrun. Habe mich dorthin gewünscht, auf die andere Seite der Rheinschlucht und mich trotzdem gefreut, dass ich in den Bergen war, allein.
Was für ein Mensch freut sich über’s Alleinsein? Ein Lauramensch, ein bekloppter Einzelgänger, einer, der nicht mit anderen Menschen kann und sie nicht versteht, zumindest meistens nicht.
Allein auf diesem Berg hatte ich das Gefühl, dass alles ganz okay ist, so wie es ist, dass es so bleiben kann und dass ich dort gar nicht wieder weg will. Und vor allem, dass ein weiterer Mensch mich stören würde.
Hier unten ist es anders. Hier unten, inmitten all dieser Menschen, zwischen all diesen Paarmenschen, da kommt man sich ganz schön einsam vor, wenn man immer als Einzelmensch daher kommt. Wie macht man das, ein Paarmensch werden?

Oha, ich bin abgeschweift. Worauf wollte ich hinaus?
Darauf, dass ich glücklich war in jener Woche in Feldis. Obwohl ich im Laufe ebenjener Woche das hier verfasste: Feldis (oder eher: eine Liebeserklärung an Pintrun).

Ich war glücklich.

Und irgendwann zwischen damals und heute habe ich das begriffen, weil ich des öfteren herauszufinden versuche, was denn Glück eigentlich ist. Für mich ist es, am aktuellen Zustand nichts ändern zu wollen. Daher sind das meistens eher kurze Momente, ein wahnsinnig schöner Sonnenaufgang, ein Regenbogen oder eben: irgendwo in den Bergen im Regen zu hocken, ganz allein, und zu heulen wie ein Schlosshund, weil die Luft so gut riecht und der Regen trommelt und irgendwo ein Vogel pfeift.

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