Ich sehe nicht so gut. Ich sehe nicht direkt schlecht, nur einfach nicht so gut. Ohne Brille kann ich noch knapp ein Buch lesen, alles was weiter als eine halbe Armlänge von meinem Gesicht entfernt ist, sehe ich nur unscharf. Das ist weder eine seltene Schwäche, noch ist es irgendwas, das mich in meinem Leben extrem beeinträchtigt, eigentlich könnte ich sogar sagen, dass es mich überhaupt nicht stört (ausser, wenn ich mit meiner Freundin schwimmen gehe, die Linsen verloren habe und sie unter all den anderen Badegästen nicht mehr erkenne, sobald sie mehr als drei Meter von mir entfernt ist).
Allerdings scheint diese nicht sehr seltene und auch nicht weiter beeinträchtigende Sehschwäche in meinem Körper etwas ausgelöst zu haben: ich rieche und höre sehr gut. Und DAS wiederum ist manchmal nur sehr schwer zu ertragen.
Jeder Mensch hat einen ihm eigenen Körpergeruch. Da spielen verschiedene Faktoren mit, die Ernährung, der Körper an sich, lauter Dinge, von denen ich nichts verstehe, aber das ist ja Wurscht, das Ergebnis all dieser chemischer Prozesse ist, dass Menschen riechen.
Zu diesem Menschengeruch kommen dann noch Duschmittel, Shampoos, Deos, Parfums und was sich der Homo Sapiens Sapiens im einundzwanzigsten Jahrhundert sonst noch so anstreicht, -spritzt und -sprayt.
Und zu dieser oft bereits sehr unharmonischen Mischung gesellt sich dann noch die Kleidung, die im besten Fall nach einem frühlingsduftenden Veilchenwasserwaschmittel riecht, im schlechtesten Fall nach einem kettenrauchenden Stinktier.
Ja, das ist jetzt ein bisschen übertrieben. In aller Regel riechen Menschen gar nicht so wahnsinnig schlecht, einfach so, dass es mir auffällt. Zum Beispiel kann ich, wenn ich im Geschäft vom Keller hinaufkomme, nicht nur sagen, dass jemand Fremdes im Büro war, ich kann auch sagen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Sehr selten liege ich daneben.
Diese Übung funktioniert auch mit anderen Gerüchen. Einmal kam ich nach einem halbstündigen Kelleraufenthalt ins Grossraumbüro zurück, atmete ein und fragte «wer hat Erdbeerquark gegessen?»
Darauf meldete sich eine Mitarbeiterin, sie sei es gewesen, aber das sei schon fast eine halbe Stunde her und der leere Becher sei in der Küche im Abfalleimer, das könne ich doch unmöglich gerochen haben.
Oh doch. Ich kann. Und es nervt.
Das selbe gilt für mein Gehör. Ich höre Lärm, überall. Der Plotter im Standby-Modus, mein kleiner Zweitmonitor, der iMac beim aufstarten, das alles macht einen Saukrach.
Der hohe Piepston, den unser alter kleiner Röhrenfernseher von sich gegeben hat, wenn man ihm nicht den Strom abdrehte, hat mich als Kind durch zwei Wände hindurch in den Wahnsinn getrieben.
Von von Menschenhand oder eher -mund erzeugten Geräuschen rede ich jetzt mal lieber nicht. Das ist ein ganz anderes Kapitel.
Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist folgendes.
Heute Nacht habe ich die Stille gehört. Mal wieder. Ist schon eine Weile nicht mehr passiert.
Ich kam von einem Konzert nach Hause, und dieses Nach-Hause-Kommen beinhaltet einen zwanzigminütigen Fussmarsch vom Dorf bis an den Arsch der Welt, wo ich wohne.
Durchs Dorf, auf einem Feldweg zwischen Wiesen und Feldern durch, an einem kleinen Pferdestall vorbei auf die schmale Strasse.
Normalerweise höre ich die Autos, die auch nachts um halb zwölf auf der weiter entfernten breiteren Strasse vorbeirauschen. Ich höre die Pferde schnauben und die Ohren der Esel hin-und her schlackern, wenn sie den Kopf schütteln. Ich höre das Plätschern des Wassers im winzigen Teich, das Scharren der Gänse in ihrem Gänsehaus, das Klopfen der Kaninchen in ihrem Stall, manchmal bellt ein Hund. Im Hintergrund ein ganz leises konstantes Rauschen. Der Strom in den Starkstromleitungen.
Und heute? Nichts. Nur meine Atemzüge und ein Rauschen, von dem ich denke, es sei der Strom, was aber kaum sein kann, da ich ja sonst nichts von ausserhalb höre.
Ich höre nichts, weil ich an einem Konzert war, und da war es laut und das mögen meine Ohren nicht so und streiken darum nach Konzerten ein paar Stunden, indem sie ihre Arbeitsleistung hinunterschrauben.
Ich will das Rauschen isolieren, ich will wissen, ob es der Strom ist oder nicht; falls ja, müsste es direkt unter den Leitungen lauter sein. Da stehe ich also und verfluche mein lautes Atmen, halte die Luft an, eine Zehntelssekunde lang herrscht Stille, dann höre ich mein Herz klopfen, erst noch regelmässig, dann immer schneller und unregelmässiger, ich rege mich darüber auf und merke irgendwann, dass ich ja immer noch die Luft anhalte und atme aus, worauf so ein Lärm folgt, ein Keuchen und Krächzen und Klopfen, dass gar nicht mehr daran zu denken ist, die Herkunft des Rauschens festzustellen.
Als sich mein Herzschlag wieder beruhigt hat und ich auf dem Hof stehe, wo weit und breit keine Starkstromleitung ist, und dem Rauschen lausche, merke ich, was es ist: Es ist die Stille, die in meinem Schädel dröhnt.